2013
Dr. Gabriele Venzky – Rechenschaftsbericht Tsunami
Die Gründerin und 2. Vorsitzende von LIFT e.V. Dr. Gabriele Venzky hat bereits mehrere Projekte mit den Helpers of Mary erfolgreich umgesetzt. Ein besonders beeindruckendes ist das Tsunami-Projekt, das nach neun Jahren Laufzeit nun abgeschlossen ist. In Ihrem letzten und 9. jährlichen Rechenschaftsbericht zieht sie Bilanz:
Der Tsunami-Alptraum ist vergessen. Zwei indische Fischerkolonien gehen in eine völlig neue Zukunft
Als Weihnachten 2004 der Tsunami innerhalb von wenigen Minuten das Leben von Hunderttausenden von Menschen zerstörte, haben die Leserinnen und Leser mehrerer Zeitungen insgesamt Euro 692.425,40 gespendet, nachdem ihre damalige Asien-Korrespondentin Gabriele Venzky sie um Hilfe gebeten hatte. Sie hat sich seitdem um die Projekte Saude, südlich von Cochin und Attakal bei Alleppey gekümmert, jedes Jahr auch die Bücher kontrolliert, und beschreibt im Folgenden, was aus dem Spendengeld geworden ist.
Als wir in den ersten Tagen des Jahres 2005 nach Saude und Attakal kamen, wenige Tage nach dem Tsunami, der auch das südindische Kerala schwer heimgesucht hatte, herrschte dort absolute Verzweiflung. Zwar hatte es hier nicht so viele Tote gegeben, wie anderswo, aber die Häuser und Fischerboote der Leute waren zerstört, sie hockten im Freien, hatten alles verloren, und immer wieder bekamen wir zu hören:“Jetzt ist es zuende mit uns“. Wer heute nach Saude kommt, erlebt, dass der Tsunami keineswegs das Ende war, sondern der Beginn einer völlig neuen Zukunft. Die Entscheidung für gerade dieses Projekt war gefallen, weil hier unsere bewährten „Helpers of Mary“ arbeiten, von denen wir bereits aus anderen Projekten wussten, dass das, was diese Schwestern anpacken, Hand und Fuß hat. Unser neustes Projekt LIFT e.V. beweist das abermals.
Wir hatten uns damals vorgenommen, langfristige und nachhaltige Hilfe zu leisten. Das heißt: es sollte nicht darum gehen, für die Menschen wieder die alten Verhältnisse herzustellen, sondern sie sozusagen eine Stufe höher zu bringen. Denn, das war klar, so wie früher würde es nie mehr werden. 3.000 Jahre waren die Leute in ihren kleinen Auslegerbooten hinaus auf See gefahren und hatten vom Fischfang gelebt. Doch mit dem Fischfang war es nach dem Tsunami aus. Einmal, weil es in Küstennähe keine Fische mehr gab. Zum anderen, weil die kommerziellen Trawler-Flotten weiter draußen alles wegfischten. Deshalb beschlossen wir, uns auf Bildung und Ausbildung von Kindern, Jugendlichen und Frauen zu konzentrieren. Neue Berufe mussten her, neue Verdienstmöglichkeiten, ein neues Lebensbild – während die meisten Männer in Apathie und Alkohol versanken.
Was haben wir getan? Das erste war die Notversorgung von 6.000 Menschen, die unter freiem Himmel kampierten. Dann begannen wir mit dem Bau von 236 stabilen kleinen Häusern, die ersten standen bereits im Februar 2005, viele Monate vor den Häusern großer Hilfsorganisationen. Darauf sind wir besonders stolz. Als nächstes kam die Grundausstattung der Schulkinder an die Reihe, die alle nicht mehr zur Schule gehen sollten, weil ihren Eltern das Geld fehlte. 2.300 Kinder haben wir auf diese Weise seitdem in die Schule gebracht. 302 Frauen haben einen sechsmonatigen Schneiderinnenkurs besucht und sind mit Diplom und handbetriebener Nähmaschine verabschiedet worden. Sie haben kleine Kooperativen gebildet, nähen Kleidungsstücke und Schuluniformen und ernähren ihre Familien. 1.500 Frauen sind in 70 Selbsthilfegruppen organisiert. 197 Jugendlichen haben wir zu einem Schulabschluss, zum College oder der Fachuniversität verholfen. Sie wurden Techniker, Informatiker, Ingenieure, Betriebswirte, Lehrerinnen, Krankenschwestern; wir haben sogar einen Rechtsanwalt ausgebildet und einen Arzt, und unter unseren noch Studierenden ist eine zukünftige Bauingenieurin, ein weiteres Mädchen studiert Maschinenbau. Fünf bis zehn Jungen haben wir pro Jahr eine Facharbeiterlehre ermöglicht, und eine der ersten Frauen, die von unserem Mikrokredit-Projekt profitierte, war eine
etwa 40jährige Frau, die den Führerschein machte. Heute hat sie ein kleines Fuhrunternehmen.
Eine Besonderheit aber ist das Projekt Vorschule. 424 unserer Drei- bis Vierjährigen in ihren kleinen karierten Uniformen wurden von zwei Montessori-Lehrerinnen zwei Jahre lang auf die Schule so gut vorbereitet, dass jeweils die Hälfte eines Jahrgangs ein Stipendium für eine private Schule gewann, in der auf Englisch unterrichtet wird. Plätze in diesen Schulen sind teuer und hochbegehrt angesichts der in der Regel katastrophalen staatlichen Schulen. Im vergangenen Jahr wäre das Projekt fast geplatzt, weil die staatliche Schule plötzlich erklärte, sie würde nur noch Kinder aus – nichtexistierenden – staatlichen Vorschulen aufnehmen. Doch das führte zum Aufstand der meist analphabetischen Eltern. Die Vorschule arbeitet also weiter.
Eigentlich sollte das Tsunami-Projekt zehn Jahre dauern. Nun geht uns im neunten Jahr das Geld aus, weil wir anfangs einige Häuser mehr gebaut haben, als ursprünglich geplant. Aber auch nach neun Jahren kann sich das Resultat sehen lassen. Wir haben es geschafft, einer hoffnungslosen Gemeinschaft Zuversicht zu geben und ihnen Wege in eine neue Welt zu zeigen, durch Bildung und Ausbildung. Deshalb werden jene, die jetzt noch in der Ausbildung sind, diese beenden können, und die Vorschule bleibt auch erhalten. Denn mittlerweile steuern diejenigen, denen wir geholfen haben, zum Tsunami-Projekt bei. Es geht also weiter in Saude und Attakal.